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Eine päpstliche Einladung
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“In diesem Concil ist dafür zu sorgen, dass nach Ausmerzung der Laster und Irrtümer unsere erhabene Religion auf der ganzen Erde wieder auflebe und sich ausbreite und herrsche.”
Rom, 4. Juli 1868. [Ladung zum Concil.] Das apostolische Schreiben Pius IX., mit welchem das im Vatican abzuhaltende und im Jahre 1869 zu eröffnende ökumenische Concil einberufen wird, liegt dem Wortlaute nach vor. Folgendes ist ein Auszug daraus: "Zu Unserm höchstem Kummer ist die Gottlosigkeit, Sittenverderbnis und zügellose Ungebundenheit sowie die Seuche schlechter Meinungen aller Art so verbreitet, dass nicht nur unsere heiligste Religion, sondern auch die menschliche Gesellschaft auf bejammernswerte Weise in Verwirrung gestürzt und gequält wird. In die Fußtapfen Unserer erlauchten Vorfahren tretend, haben Wir es deshalb für passend erachtet, die Bischöfe der ganzen katholischen Welt zu einem allgemeinen Concil zu vereinigen, welches schon lange Unser Wunsch war. In diesem ökumenischen Concilium ist mit angestrengtestem Eifer dafür zu sorgen, dass alle Übel von der Kirche und von der bürgerlichen Gesellschaft entfernt, dass die unglücklichen Irrenden auf den Weg der Wahrheit zurückgeführt werden, dass nach Ausmerzung der Laster und Irrtümer unsere erhabene Religion auf der ganzen Erde wieder auflebe und sich ausbreite und herrsche." Nachdem der 8. December 1869 als Eröffnungstag des Concils genannt wird, fährt das päpstliche Schreiben fort: "Wir wollen und befehlen, dass von überall her sowohl Unsere ehrwürdigen Brüder, die Patriarchen, Erzbischöfe und Bischöfe, als auch Unsere geliebten Söhne, die Äbte und alle anderen, die nach Recht oder Vorrecht an den allgemeinen Concilien teilzunehmen berufen sind, zu diesem von Uns angesagten Concil herbeikommen mögen."
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Begleitumstände
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Anders als bei früheren Konzilen nannte die Einladung kein Thema. Man vermutete, dass vor allem die Sätze des “Syllabus Errorum” zementiert werden sollten, etwa der Kampf gegen den Liberalismus sowie die Ablehnung von Zivilehe und Scheidung. Gerade hatte Pius IX. die österreichische Verfassung für “immerdar ungültig” erklärt. Das führte zu heftigen Auseinandersetzungen:
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Wien, 25. Juni 1868. [Eine päpstliche Ansprache.] Der "Volksfreund" publiziert heute in deutscher Übersetzung die von Pius IX. am 22. Juni gehaltene Ansprache ("Allocution"). Sie lautet danach: "Ehrwürdige Brüder! Niemals hätten Wir geglaubt, dass Wir nach der Convention, die Wir mit dem Kaiser von Österreich vor 13 Jahren abgeschlossen haben, gezwungen sein könnten, heute die überaus schweren Kränkungen zu beklagen, von welchen nun die Kirche in Österreich heimgesucht wird. Am 21. December des vorigen Jahres wurde nämlich ein wahrhaft unseliges (infanda sane) Gesetz als Staatsgrundgesetz erlassen, das in allen Teilen des Reiches, auch den rein katholischen, volle Gültigkeit haben soll. Durch dieses Gesetz wird eine unbedingte Freiheit aller Meinungen und Presse-Erzeugnisse, des Glaubens, des Gewissens und der Lehre festgestellt; wird den Bürgern jedes Cultus die Erlaubnis erteilt, Unterrichts- und Erziehungs-Anstalten zu errichten, werden alle wie immer gearteten Religions-Gemeinschaften einander gleichgestellt und vom Staate anerkannt. Am 25. Mai dieses Jahres scheute sich dieselbe Regierung nicht, auch ein Ehegesetz zu erlassen, das die höchst verwerfliche sogenannte Civilehe einführt. Mit demselben Gesetz hat jene Regierung auch alle Autorität und Gerichtsbarkeit der Kirche in Ehesachen aufgehoben. Kraft Unserer apostolischen Autorität verwerfen und verdammen Wir die angeführten Gesetze und alles, was gegen die Rechte der Kirche von der österreichischen Regierung verordnet worden ist; kraft derselben Autorität erklären Wir diese Gesetze samt ihren Folgerungen als durchaus nichtig und immerdar ungültig (nullius roboris fuisse ac fore)."
Wien, 1. Juli 1868. [Gegen die päpstliche Allocution.] Der Gemeinderat der Stadt Wien erklärt zur Ansprache des Papstes u.a. folgendes: "Dass das Staatsoberhaupt einer fremden Macht, dass das kirchliche Oberhaupt einer Religions-Gesellschaft die verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetze eines anderen Staates für nichtig und ungültig erklärt, ja diese Verfassung selbst negiert und die Kirchenfürsten zum Widerstand gegen diese Gesetze auffordert, ist ein unerhörter und maßloser Übergriff in die unverletzlichen Rechte jedes Staates. Dies kann und darf nicht geduldet werden von einer Regierung, welche auf dem festen Boden des Rechtes und der Verfassung steht, von dem Vertrauen der Bevölkerung getragen wird und die Unverletzlichkeit der Gesetze zu wahren berufen ist."
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Daneben gab es weitere Aspekte, die für die politische Entwicklung entscheidend werden sollten: 1) der französische Kaiser Napoleon III., der eifersüchtig auf den Erhalt von Frankreichs Vormachtstellung achtete; 2) die Lage in Italien, wo Regierung und Bevölkerung den Abzug der Franzosen verlangten (was voraussichtlich das Ende des Kirchenstaates bedeutet hätte); 3) die Lage in Spanien, wo ein Militärputsch die Königin Isabella gestürzt hatte, und wo die Thronfolge-Kandidatur Leopolds von Hohenzollern-Sigmaringen am Ende zum deutsch-französischen Krieg 1870/71 führte:
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Paris, 10. August 1868. [Die Rede Napoleons.] "Nichts bedroht heute den Frieden Europas!" hat der Kaiser in Troyes den Bewohnern der Champagne zugerufen, aber mit dem Stoßseufzer geschlossen: "Gott schütze Frankreich!" Beide Phrasen lassen sich sehr wohl mit einander reimen; da der Kaiser aber das Privilegium der Sibylle hat, stets zweideutig zu erscheinen, so wird auch heute wieder jener erste Satz zu Friedensliedern benutzt, dieser letzte Seufzer hingegen als Kriegsandeutung ausgelegt.
Paris, 9. September 1868. [Die Franzosen zum Abzug aufgefordert.] Dem Journal des Débats wird aus Florenz geschrieben: "Wie bereits mitgeteilt, verlangt die italienische Regierung von Frankreich die Räumung Roms. Nach den Bestimmungen des Vertrages von 1864 ist Italien ganz in seinem Rechte, darauf zu bestehen. Frankreich selber hat die päpstliche Schuld geregelt und in Italien herrscht Ordnung, so dass Rom sich nicht für bedroht ausgeben kann. Herr Nigra hat Weisung erhalten, darauf zu dringen, dass nun auch Frankreich seinerseits durch Zurückziehung seiner Truppen die Vertragsbedingungen erfüllt."
Paris, 20. September 1868, abends. [Die Nachrichten der Abendzeitungen aus Spanien] sind größtenteils unsicher und beruhen auf Gerüchten. Die France und die Opinion nationale erwähnen das Gerücht, die Königin Isabella wolle abdanken. Dem Gaulois zufolge wären an mehreren Punkten des Königreichs revolutionäre Bewegungen ausgebrochen, welche indessen aus Mangel an einheitlicher Leitung im Keim erstickt worden seien. In Madrid und den Provinzen soll große Aufregung herrschen. Der Figaro hält die Bewegung für sehr ernst, da sich dieses Mal alle Parteien gegen die Königin verbunden hätten. Der Temps will wissen, dass eine große Anzahl spanischer Flüchtlinge Paris verlassen habe. Die Agence Havas meldet aus Madrid vom heutigen Tag: Die Königin ist von San Sebastian nach der Hauptstadt zurückgekehrt. Eine Begegnung mit dem Kaiser Napoleon hat nicht stattgefunden. Madrid ist in Belagerungszustand erklärt, die Stadt ist ruhig. Das Gerücht, die verbannten Generäle hätten die Canarischen Inseln verlassen, soll sich bestätigen.
Madrid, 29. September 1868. [Der Sieg der Revolution.] Der entscheidende Zusammenstoß zwischen dem Befehlshaber der königlichen Truppen und den Insurgenten ist, wie nach den Bewegungen der beiden Armeen vorherzusehen war, in der Gegend von Cordoba erfolgt. Novaliches ist geschlagen. In Madrid hat eine Erhebung stattgefunden ohne Blutvergießen. Truppen und Volk fraternisieren mit einander. Die Dynastie ist gestürzt und eine neue Regierungsform soll eingeführt werden. Eine aus allgemeinen Wahlen hervorgehende constituierende Versammlung soll über die fernere Gestaltung der Dinge zu entscheiden haben. Einstweilen ist eine provisorische Regierungsjunta eingesetzt worden, welche aus vier Progressisten, vier Liberalen und vier Demokraten besteht.
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Unfehlbarkeit: Diskussion (1)
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Mitten in die Nachrichten von der Revolution in Spanien fiel die Mitteilung, worum es auf dem Konzil im Vatikan gehen würde:
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Paris, 24. September 1868. [Die Unfehlbarkeit des Papstes als Glaubensartikel.] Das Journal des Débats veröffentlicht heute einen langen Artikel über einen bevorstehenden Kampf, der nächstes Jahr im großen Concil in Rom ausgefochten werden solle. Die Partei, welche jetzt in der katholischen Kirche herrsche und darin seit langer Zeit jeden intelligenten Widerstand unterdrücke, verfolge mit eben so vielem Erfolge als Beharrlichkeit das Ziel einer vollständigen Concentration und Unification. Niemals habe das Prinzip der absoluten Einheit mit einem erstickenderen Gewicht auf der Kirche und auf den Gewissen gelastet, als jetzt. Und die Krönung dieses Gebäudes werde auf dem nächsten Concil die Proclamation des Dogmas von der päpstlichen Infallibilität sein.
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Doch erst im folgenden Jahr begann eine intensive Diskussion darüber, was dieses Dogma für die Kirche und die Staaten bedeuten würde:
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Berlin, 29. März 1869. [Die Vorstellung von der Unfehlbarkeit des Papstes (I.)] Betrachten wir einmal, wie überhaupt die merkwürdige Vorstellung von der Untrüglichkeit des römischen Bischofs entstanden ist. Die entscheidende Grundlage für die Bildung dieser Vorstellung ist unstreitig die von ihren Verteidigern unablässig vorgeführte Erzählung bei Matthäus (Capitel 16), nach der es unter den Aposteln zuerst Simon gewesen ist, der Jesus als den Christus erkannt und bekannt habe. Darum preist ihn Christus selig und sagt: nicht Fleisch und Blut hat dir dies geoffenbart, sondern mein Vater im Himmel. "Und ich sage dir auch: du heißest Petrus (Felsen) und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen; und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Und ich will dir die Schlüssel des Himmelreiches geben; und was du irgend wehrest auf Erden, das wird auch im Himmel gewehret sein; und was du irgend zulässest auf Erden, das wird auch im Himmel zugelassen sein." Nach einer weiteren Erzählung des Matthäus (18,18) erteilte Jesus indes dieselbe Befugnis allen seinen Jüngern, und um ihren geistigen Inhalt zu verstehen, muss man auf die orientalische Redeweise Rücksicht nehmen. Überdies berichtet Johannes, dass es nicht Petrus, sondern dessen Bruder Andreas war, der als erster in Jesus den Messias erkannte, und der Petrus zu ihm hinführte. Obgleich Petrus nach der Apostelgeschichte bis zum Apostel-Convent in Jerusalem (im Jahre 50) einen gewissen Primat der Ehre und des Einflusses besitzt, sieht er sich doch weder selbst, noch sehen ihn andere als untrüglich an; ja, Paulus, der mit ihm etwas später in Antiochien zusammentrifft, beschuldigt ihn in einem Fall der Heuchelei. Petrus ist ferner nicht der Gründer der Gemeinde in Rom gewesen, denn diese Gemeinde bestand schon, als Paulus seinen Brief an die Römer (im Jahre 58) schrieb, und als Paulus als Gefangener nach Rom kam (im Jahre 61) war Petrus noch nicht dagewesen. Zwar hat nach späteren Überlieferungen (aus der Zeit um 200) Petrus einen, vermutlich kaum einjährigen Aufenthalt in Rom gehabt, und ist daselbst bei der Neronischen Verfolgung (64) als Märtyrer umgekommen. Aber dass er Bischof in Rom gewesen sei und den angeblichen Primat, wie behauptet, auf seine Nachfolger auf dem römischen Stuhle übertragen habe, davon weiß der dritte Bischof Roms, Clemens, dessen Briefe uns erhalten sind, noch nichts. Ohnehin war das erste Jahrhundert der Christenheit am allerwenigsten dazu angetan, hierarchische Ordnungen und gar auf die Dauer ins Leben zu rufen; aus allen Schriften des Neuen Testaments spricht die Gewissheit, dass das Ende der Welt sehr nahe bevorstehe, und dass das Gericht bereits im Anzuge sei. Und Petrus hat am wenigsten Schuld an der Hierarchie, die sich auf ihn gründen will; er schreibt seinen ersten Brief als "Mitältester" und ermahnt die Ältesten der Gemeinde, nicht Zwingherren, sondern Vorbilder der Herde zu sein. (Wird fortgesetzt.)
Berlin, 3. April 1869. [Die Vorstellung von der Unfehlbarkeit des Papstes (II.)] Wir fahren mit unserer Betrachtung fort, wie die merkwürdige Vorstellung von der Untrüglichkeit des römischen Papstes entstehen konnte. Kein Glaubensbekenntnis der ersten Jahrhunderte, keine Schrift eines Kirchenvaters weiß etwas davon, dass alle Gewissheit des Glaubens und der Lehre bei dem Papste zu suchen sei. Synoden und Concilien entschieden die streitigen Fragen der Kirche. Ein (verstorbener) Papst Honorius wurde sogar von mehreren Concilien für irrgläubig erklärt, und die Päpste nach ihm nahmen dieses Urteil an. Erst im sechsten Jahrhundert wird versucht, den Grundsatz einzuführen: "der erste Stuhl dürfe von Niemandem gerichtet werden". Dann folgte im neunten Jahrhundert die bekannte Fälschung der isidorischen Decretalen, und da fanden sich die ersten Grundlagen der päpstlichen Unfehlbarkeit. Erst im dreizehnten Jahrhundert findet sich ein angesehener Verteidiger der päpstlichen Unfehlbarkeit und absoluten Monarchie, Thomas von Aquin (seit 1248). Aber im 15. Jahrhundert haben die großen Concilien in Constanz und Basel ohne ernsten Widerspruch und mit wiederholter Zustimmung der Päpste den Grundsatz verkündet: dass in Sachen des Glaubens der Papst dem allgemeinen Concil untergeordnet, dieses die höhere, also allein sichere Autorität sei. Die eigentliche Stütze der unerhörten Lehre, die nicht einmal auf dem Trientiner Concil durchzusetzen war, wurden seitdem die Jesuiten. Mit dem Einfluss der Jesuiten an Höfen und Hochschulen und mit dem System der Inquisition und Censur verschwand überall in den katholischen Ländern die theologische Forschung. So breitete sich die neue Lehre aus; niemand durfte sich mehr offen für die Grundsätze der Concilien des 15. Jahrhunderts erklären. In Frankreich ist seit der Revolution und deren Folgen unter Napoleon das ganze kanonische Recht der altfranzösischen Kirche zerstört, der niedere Clerus dem höheren schutzlos preisgegeben. In Deutschland ist die gelehrte theologische Forschung unter katholischen Geistlichen schon seit zwei Jahrzehnten tot. Unabhängige Stimmen wagen sich nicht mehr hervor. Für die englischen Katholiken gibt Manning, ein Schwärmer für die päpstliche Unfehlbarkeit, den Ton an, für Irland Cullen. Zweihundert auf den Seminaren erzogene italienische Bischöfe sind eines Sinnes mit der römisch-jesuitischen Partei. Mit ganz wenigen abweichenden Stimmen, vielleicht einigen deutschen und französischen, wird also im December dieses Jahres das Concil in Rom die päpstliche Unfehlbarkeit und den ganzen Syllabus feierlich beschließen.
Turin, 18. April 1869. [Das Concil.] Die Gazetta di Torino schreibt heute: "In Rom dauert die große jesuitische Vorbereitungsarbeit zum Concil fort. Man fertigt Listen der guten, der zweifelhaften und der schlechten Bischöfe an, und man trifft Maßnahmen, die zweiten zu gewinnen und die letzteren auszuschalten. Wenn diese Arbeit beendet sein wird, wenn man die Sicherheit erlangt hat, die noch fehlt, kann man den Zusammentritt des Concils für sicher halten."
Worms. 31. Mai 1869. [Die Protestanten-Erklärung.] Der Wortlaut der Erklärung, welche der deutschen Protestantenversammlung in Worms vorliegt, ist folgender: 1) Wir, die heute in Worms versammelten Protestanten, fühlen uns in unserem Gewissen gedrungen, gegen die in dem sogenannten apostolischen Schreiben vom 13. September 1868 an uns gerichtete Zumutung, in die Gemeinschaft der römisch-katholischen Kirche zurückzukehren, öffentlich und feierlich Verwahrung einzulegen. 2) Immer bereit, auf den Grundlagen des reinen Evangeliums mit unseren katholischen Mitchristen uns zu vereinigen, protestieren wir heut noch ebenso entschieden, wie vor 350 Jahren Luther in Worms und unsere Väter in Speyer, gegen jede hierarchische und priesterliche Bevormundung. Wir verwehren uns gegen allen Geisteszwang und Gewissensdruck, insonderheit gegen die in der päpstlichen Encyclica vom 18. December 1864 und in dem damit verbundenen Syllabus ausgesprochenen staatsverderblichen und culturwidrigen Grundsätze. 3) Als Hauptursache der religiösen Spaltung, die wir tief beklagen, erklären wir die hierarchischen Irrtümer, insbesondere den Geist und das Wirken des Jesuiten-Ordens, der den Protestantismus auf Leben und Tod bekämpft, jede geistige Freiheit unterdrückt, die moderne Cultur verfälscht und gegenwärtig die römisch-katholische Kirche beherrscht. Nur durch entschiedene Zurückweisung der fortwährend gesteigerten hierarchischen Anmaßungen, nur durch Rückkehr zum reinen Evangelium und Anerkennung der Errungenschaften der Cultur kann die getrennte Christenheit den Frieden wieder gewinnen und die Wohlfahrt dauernd sichern.
München, 14. Juni 1869. [Das Concil in Rom.] Wie der "Augsb. Postz." von hier mitgeteilt wird, sollen von Seiten des Ministeriums an die theologischen und juristischen Facultäten des Landes sechs Fragen ergangen sein, welche sich auf das bevorstehende Concil beziehen. Darunter soll sich auch eine über die Infallibilität des Papstes befinden. Ferner meldet das genannte Blatt, dass sich Familien aus dem Beamten-, Adels- und Bürgerstande in München versammelt haben, aus Anlass der auf dem Concil zur Verhandlung stehenden Gegensätze. Sie wollen, wenn die persönliche Infallibilität des Papstes vom Concil proclamiert werden sollte, öffentlich erklären, nicht mehr dieser "neuen Kirchengesellschaft" angehören zu wollen.
Rom, 19. Juni 1869. [Eine neue Ansprache des Papstes.] Pius IX. hat am 17. Juni, dem Jahrestage seiner Krönung, u.a. folgendes geäußert: "Die Welt ist in zwei Gesellschaften getrennt; die eine ist zahlreich und mächtig, unruhig und aufgewühlt, die andere ist weniger zahlreich, aber ruhig und gläubig. So sehen wir auf der einen Seite die Revolution, welche den Socialismus im Schlepptaue hat, der die Religion, die Moral und Gott selbst verleugnet, und auf der anderen Seite die wahren Gläubigen, welche ruhig und fest in ihrem Glauben warten, bis die guten Principien ihre heilsame Herrschaft wieder erlangen und die Absichten Gottes in Erfüllung gehen. Ach! wenn doch die Souveräne diese Principien annehmen möchten, um wie viel leichter wäre es ihnen, ihre Völker zu regieren! Wieviel Gutes könnten sie diesen Völkern und sich selber tun! Die Zukunft ist in Gottes Hand; wie er die ersten Revolutionäre, die Teufel, niedergeschlagen, so wird er auch die Revolutionäre von heute niederschlagen."
Paris, 20. Juni 1869. [Die französischen Bischöfe und das Concil.] Es mehren sich die Anzeichen, dass wenigstens ein Teil des französischen Episcopats nicht gewillt sei, sich auf dem Concil zu der Rolle eines bloßen Acclamators für die Vorschläge der Curie herzugeben. In zwei Artikeln des Francais (vom 18. und 19. März) hat Dupanloup sich bereits entschieden gegen die Tendenzen verwahrt, welche in jenen berüchtigten Artikeln der Civiltà cattolica laut geworden sind. Seine Erklärungen erregten in Rom großes Aufsehen und tiefe Verstimmung, doch scheinen sie die Curie in ihren Plänen nicht beirrt zu haben. Dieselbe erkennt aus der Statistik des Concils, dass es ihr an einer imposanten Mehrheit nicht fehlen werde. Zur Vertretung auf den Concil sind nämlich 850 Bischofssitze berechtigt, außerdem 72 Cardinäle, insgesamt etwa 920 entscheidende Stimmen. Die Curie rechnet aber nur auf 500 bis 600 Erscheinende, von denen die große Mehrzahl für die Ansichten des Heiligen Stuhls stimmen würde.
Rom, 23. Juni 1869. [Das Römische Concil und die Staaten.] Der Spott eines gebildeten Zeitalters kann sich mit seiner ganzen Schärfe gegen das Vorhaben der Jesuiten richten; dieses gebildete Zeitalter kann mit der festesten Zuversicht der Jesuitenpartei versichern, dass sie Unmögliches anstrebt, dass es der Vernunft, dass es den christlichen Grundsätzen selbst widerspreche, dass ihre Concil-Beschlüsse in den Wind geredet sein werden; alles dies wird die Jesuiten nicht abhalten, auszuführen, was heute in tiefster Geheimhaltung in Rom ausgearbeitet wird. Und dann wird man mit großer Einstimmigkeit auf dem Römischen Concil die Aussprüche verabschieden: über Glaubenssätze, über Vorschriften der Disziplin, über die Rechte der Kirche in bürgerlichen Dingen, über die Pflichten der Geistlichkeit und der Gläubigen gegenüber der weltlichen Obrigkeit und den bürgerlichen Ordnungen. Lassen die europäischen Staaten sich auf dem Römischen Concil das vollziehen, was die Jesuitenpartei anbahnt, dann werden die Schwierigkeiten, die ihnen heute schon die festgeschlossene römische Hierarchie mitten im Schoße der modernen Institutionen macht, lawinenartig anwachsen. Denn die Partie steht gar nicht gleich. Die Staaten und ihre Verfassungen sagen: wir lassen der Kirche ihr Gebiet ganz frei, das ist das religiöse Gewissen, das Dogma und die kirchlichen Einrichtungen. Rom aber und sein Syllabus kennt keine Selbstbeschränkung: diese greifen vom geistlichen Centrum ein in die Ehe, Familie, die Schule, die Wissenschaft, in die Staatsgesetze. Was ist es denn, das sie am letzten Ende nicht beanspruchen? Es wäre kurzsichtig, wollte man abwarten, was Rom im December dieses Jahres bringen wird. Wer seine Macht nicht anwendet, zu hintertreiben, was gefährlich ist, wird einst viel größere Anstrengungen zu machen haben, ein Übel zu bekämpfen, das er zum Ausbruch kommen ließ.
Rom, 2. Juli 1869 [Was will das römische Concil?] Wir haben bereits gezeigt, dass die europäischen Staaten einen großen Fehler begehen würden, wollten sie das bevorstehende Concil auf die leichte Achsel nehmen. Erinnern wir an einige Sätze der Encyclica und des Syllabus. Es sei fluchwürdig, sagt die Encyclica, dass in einem wohlgeordneten Staate ein Jeder Gewissensfreiheit und die Freiheit, seine Gedanken durch Wort und Schrift zu äußern, haben solle. Die Autorität des apostolischen Stuhles, sagt sie ferner, sei auch in weltlichen Dingen der staatlichen Autorität nicht untergeordnet. Gehorsam sei auch solchen Decreten des Römischen Stuhles zu leisten, welche die Glaubens- und Sittenlehren nicht berühren. Der Syllabus verdammt es als Irrtum, dass jeder Mensch zu der Religion sich bekennen dürfe, welche er für wahr hält, und dass der Protestantismus eine verschiedene Form derselben wahren christlichen Religion sei. Im bürgerlichen Rechtsstreit, wie im Criminal-Vergehen, ist der Clerus unter geistliche Gerichtsbarkeit zu stellen. Der Staat darf die Kirche nicht aus der Leitung der öffentlichen Schulen ausschließen. Die Civilehe ist keine wahre Ehe. Es ist ein fluchwürdiger Irrtum, dass in gewissen katholischen Ländern den Einwanderern die öffentliche Ausübung ihres Cultus gesetzlich garantiert wird. Nun denke man sich, dass diese Sätze zu Gesetzen und Glaubensartikeln der katholischen Kirche erhoben werden, was ist dann die Folge? Der gläubige Katholik muss diese Sätze für wahr halten und muss suchen, ihnen Bahn zu brechen. Der Hass, der Zwiespalt, der Fanatismus wird eindringen in die Familien, in die Gemeinden, in den Staat. Also sagen wir noch einmal: man muss dem Unheil zuvorkommen. Lassen wir es Platz greifen, so wird aller Spott der Aufklärung es nicht hinweg räsonnieren.
Rom, 4. Juli 1869. [Die Staaten gegenüber dem römischen Concil.] Die Jesuitenpartei weiß, was sie will. Sie wird von Männern geleitet, die wohlorientiert sind über Personen und Zustände, die Meister sind in der Behandlung der Geister und Stimmungen. Zum ersten Mal in der christlichen Geschichte ist die Berufung eines ökumenischen Concils lediglich durch den Römischen Stuhl und ohne vorherige Beratung mit den katholischen Staaten gewagt worden, obgleich noch niemals in der Vergangenheit ein Concil abgehalten wurde, wo nicht die weltlichen Fürsten über Umstände und Verlauf des Concils sehr ernsthaft mitverfügt hätten. Heut nun, nachdem seit achtzig Jahren eine großartige Umgestaltung des europäischen Verfassungsrechts fast überall Platz gegriffen, und, wie man hoffte, im Sinne der Freiheit und des Fortschritts, heut sucht sich die Jesuiten-Partei des neuen Verfassungsrechts der Staaten zu bedienen. Mit welchem Ziele? Um frei von aller Controlle der Staatsgewalt der ganzen katholischen Christenheit neue Gesetze zu dictieren. Die europäischen Verfassungen können nicht den baren Unverstand gewollt haben. Das aber wäre es, wollten sie ihre Verfassungen, die der Freiheit der Bürger und der heilsamen Ordnung der Staaten dienen sollen, missbrauchen lassen, um ihre katholischen Bürger unter die absolute Herrschaft Roms zu stellen und das Mittelalter wieder in die neue Zeit einbrechen zu lassen.
Rom, 6. Juli 1869. [Das Concil.] Trotz der Geheimhaltung durch die Jesuitenpartei wird allmählich einiges über den geplanten Ablauf des Concils bekannt. Die Beratungen werden in den Congregationen stattfinden, deren jeder ein vom Papst ernannter Cardinal vorsitzt. Ihr Ergebnis wird dann in den Sessionen als kanonisches Recht proclamiert werden. Die Jesuiten haben wiederholt erklärt, sie wollen kein geistliches Parlament, sondern eine Versammlung, welche die Propositionen durch Acclamation billigt; und diese eigentümliche Form, welche die Furcht vor sich erhebenden Controversen schlecht verhüllt, lässt keine Discussion zu.
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Intermezzo: Vermischte Nachrichten
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Newyork, 12. Mai 1869. [Die Pacific-Eisenbahn.] Es ist gewiss eine der gewaltigsten Errungenschaften unserer Zeit, dass man jetzt das Festland von Nordamerika in seiner größten Breite auf der Eisenbahn bereisen kann. Ein ununterbrochener Schienenweg führt von dem Hafen Halifax in Neuschottland bis zu dem Hafen San Francisco in Californien, mithin vom äußersten Osten bis zum äußersten Westen der von civilisierten Menschen bewohnten Strecke des nordamerikanischen Continents. Die letzte Schiene des westlichen Zweiges oder des Central Pacific Railway wurde am 8. Mai, die letzte Schiene des östlichen Zweiges oder des Union Pacific Railway am 10. Mai gelegt. An diesem Tage um 12 Uhr mittags – der Telegraph berichtete die feierlichen Hammerschläge der Vollendung und Einweihung nach allen Städten Amerikas – wurde die Verbindung der beiden Bahnzweige an Promontory Point nördlich von der großen Salzseestadt in Utah hergestellt.

Port-Said. 23. Juni 1869. [Die Einweihung des Suezcanals] findet, wie heute mitgeteilt wird, am 17. November statt. Die Handels- und Staatsschiffe, welche die Gäste hinführen, sind von jedem Zoll befreit und müssen spätestens am 16. November in Port-Said eintreffen. Sie werden am 17. den Canal von Port-Said bis zum Timsah-See befahren, am 18. vor Jamail weilen, wo der Vicekönig ein Fest geben wird, und am 19. die Bitteren Seen passieren, um am selbigen Tag in das Rote Meer einzufahren.
Wien, 25. Juni 1869. [Eine Neuerung im Postwesen.] In Österreich wird demnächst im Postwesen eine neue Einrichtung: die Verwendung von Postkarten, ins Leben treten, von der man sich dort große und wohltätige Wirkungen verspricht. Kurze Mitteilungen werden fortan auf jede Entfernung innerhalb der Grenzen der Monarchie um zwei Neukreuzer befördert werden. Die Postverwaltung wird kleine Briefkarten, etwa doppelt so groß wie eine gewöhnlich Visitenkarte, die "Postkarten" ausgeben. Diese bestehen aus steifem Papier und sind in der Mitte gefaltet; auf der Außenseite ist der Zweikreuzer-Stempel und die Worte: An N.N. in N. gedruckt. Natürlich wird man sich der Postkarte nur zu solchen Mitteilungen bedienen, welche der Geheimhaltung nicht bedürfen.
Karlsruhe, 3. Juli 1869. [Die Fische im Rhein] zeigen in den letzten Jahren eine merkliche Abnahme. Mit Rücksicht darauf, dass eine wirksame Abhilfe nur geschehen kann, wenn sämtliche Rheinuferstaaten gemeinsame Maßregeln zum Schutz der Fische treffen, hat die Regierung Badens den Regierungen Preußens, den Niederlanden, Hessen, Frankreich und Bayern den Entwurf zu einer Übereinkunft für die Fischerei im Rheine, seinen Zuflüssen und Abflüssen bis in das offene Meer vorgelegt.
Berlin, 7. Juli 1869. [Die Berliner Volkszählung (I.)] Über die Berliner Volkszählung vom 3. December 1867 liegt jetzt ein Bericht der städtischen Volkszählungs-Commission vor. Demnach lebten in Berlin zum Zeitpunkt der Zählung 686.218 Einwohner, davon 50,2% männlichen und 49,8% weiblichen Geschlechtes. Von diesen waren 535.730 oder 78,07% dauernd ansässig, im Gegensatz zur sog. flottierenden Bevölkerung von 150.488 Einwohnern oder 21,93%. Ohne Berücksichtigung des in den Kasernen untergebrachten Militärs leben in Berlin 595,637 Einwohner oder 86,8% in Familien-Haushaltungen, 43,496 Einwohner oder 6,3% als Schlafleute, 24,382 Einwohner oder 3,6% als Mieter möblierter Zimmer, 10,858 Einwohner oder 1,6% als directe oder Aftermieter mit eigenen Möbeln, 11,575 oder 1,7% in öffentlichen Instituten. Über den Einfluss der großstädtischen Verhältnisse auf den Familienstand geben folgende Zahlen Auskunft. Von den über 23jährigen Männern befinden sich: verheiratet in Preußen 72,3%, in Berlin 57,7%; unverheiratet in Preußen 21,9%, in Berlin 37,3%; verwitwet in Preußen 5,7%, in Berlin 4,4%; geschieden in Preußen 0,1%, in Berlin 0,6%. Unter den über 16jährigen Frauen befinden sich: verheiratete in Preußen 53,6%, in Berlin 45,5%; unverheiratete in Preußen 35,3%, in Berlin 41%; verwitwete in Preußen 10,9%, in Berlin 12,5%; geschiedene in Preußen 0,2%, in Berlin 1,0%.
Berlin, 8. Juli 1869. [Die Berliner Volkszählung (II).] Betrachten wir noch einige statistische Angaben über die Religions-Verhältnisse in Berlin. Die hiesige Bevölkerung besteht zu 90% aus Evangelischen, zu 5,84% aus Katholiken, zu 3,94% aus Israeliten, zu 0,15% aus Dissidenten. Den Evangelischen sind 4 Herrenhuter, 74 Irvingianer und 157 Mennoniten zugezählt worden, den Dissidenten 92 Baptisten. Evangelisch-katholische Mischehen wurden gezählt 1808; von den Kindern aus diesen Ehen waren 2169 evangelisch, 1055 katholisch. Katholisch-evangelische Mischehen wurden gezählt 4556; Kinder aus diesen Ehen waren 5106 evangelisch, 3287 katholisch. Man sieht also, dass selbst wo der Vater katholisch, doch in der überwiegenden Zahl der Fälle der evangelischen Erziehung der Vorzug gegeben wurde.
Rom, 14. Juli 1869. [Bevölkerungsstatistik.] In diesen Tagen hat man die Bevölkerung Roms wieder gezählt. Ihre Zahl beläuft sich nach der Mitteilung der Pfarrgeistlichen auf 220.532 Einwohner, darunter 4682 Juden. Die Zahl der Priester, Mönche und Nonnen gibt man in diesem Jahre auf 7480 an.
Berlin, 22. Juli 1869. [Wie wohnen die Berliner?] Dies ist, wie die Berliner Volkszählung gezeigt hat, ein trauriges Kapitel. Der berühmte Staatsmann Disraeli hat einmal gesagt: man könne zu gut essen, zu viel trinken, aber niemals zu gut wohnen. Was das Wohnen betrifft, ist der Berliner unendlich genügsam. Dreiviertel aller Wohnungen haben entweder gar kein, oder nur ein oder zwei heizbare Zimmer. Und in diesen drei ungünstigsten und zahlreichsten Wohnungsklassen existiert zugleich die größte Dichte der Bevölkerung. Ohne heizbare Zimmer sind 2265 Wohnungen mit 6091 Bewohnern (meist Untermieter), mit einem heizbaren Zimmer wurden 74.972 Wohnungen, d.h. 49,1 Procent sämtlicher Wohnungen mit einer Bevölkerung von 289.320 Personen (42,9 Procent der Bevölkerung) gezählt; es kommen auf die Wohnung 4,8 Personen. Mit 2 heizbaren Zimmern fanden sich 39.440 Wohnungen oder 25,8 Procent der Wohnungen, mit 181.318 Bewohnern (26,9 Procent der Bevölkerung); in diesen Wohnungen wohnen durchschnittlich weniger Personen als in den Wohnungen mit einem heizbaren Zimmer, nämlich 4,6 Personen. In der glücklichen Lage, mehr als 5 Zimmer bewohnen zu können, befinden sich nur 10½ Procent der Berliner Bevölkerung.
Berlin, 24. Juli 1869. [Berliner Wohnverhältnisse – II.] Waren 1864 nur 24.082 Wohnungen oder 18,8 Procent mit Wasserleitung versehen, so sind dies nach der Zählung von 1867: 49.439 Wohnungen oder 32,4 Procent, also eine enorme Steigerung um 105 Procent. Allerdings entbehren noch immer 12 Procent von der Gesamtzahl der Wohnungen (18.534) sogar der Küche. Dieses leider sehr traurige Bild der Berliner Wohnungs-Verhältnisse gibt sehr viel zu denken. Aus den Tabellen ergibt sich übrigens, entgegen einer viel verbreiteten Ansicht, dass in den unteren Klassen weniger Kinder pro Haushaltung existieren, als in den oberen. Möglich, dass sie im Verhältnis mehr Kinder erzeugen, als die besser situierten; jedenfalls hat die Zählung ergeben, dass sie im Verhältnis weniger Kinder haben, als die wohlhabenderen Klassen. Die große Kindersterblichkeit in Berlin (nur allzuwohl erklärt durch unsere Wohnungs-Verhältnisse) mag der bedeutendste dabei mitwirkende Faktor sein.
Berlin, 7. August 1869. [Social-demokratische Agitation.] Das Programm für den social-demokratischen Arbeiter-Congreß in Eisenach enthält unter anderem Folgendes: "Die social-demokratische Partei Deutschlands betrachtet sich, soweit es die Vereinsgesetze gestatten, als Zweig der internationalen Arbeiter-Association, deren Bestrebungen sie sich anschließt. Als die nächsten Forderungen in der social-demokratischen Agitation sind geltend zu machen: 1) Erteilung des allgemeinen, gleichen, directen und geheimen Wahlrechts an alle mündigen Männer vom 20. Lebensjahre an zur Wahl für Parlament, Landtage und alle übrigen Vertretungskörper. 2) Einführung der directen Gesetzgebung (Referendum) durch das Volk. 3) Aufhebung aller Vorrechte von Stand, Besitz, Geburt und Confession. 4) Errichtung der Volkswehr an Stelle der stehenden Heere. 5) Trennung der Kirche vom Staat und Trennung der Schule von der Kirche. 6) Obligatorischer und unentgeltlicher Unterricht in Volksschulen. 7) Unabhängigkeit der Gerichte, Einführung der Geschworenengerichte und des öffentlichen und mündlichen Gerichtsverfahrens. 8) Volle Pressefreiheit, freiestes Versammlungs-, Vereins- und Coalitionsrecht, Einführung des Normalarbeitstages, Verbot der Kinderarbeit. 9) Abschaffung aller indirecten Steuern und Einführung einer einzigen directen progressiven Einkommenssteuer." – Man kann in der Tat nicht mehr verlangen, um die ganze Gesellschaft auf den Kopf zu stellen.
Berlin, 15. August 1869. [Heinrich Heine.] Fast dreizehn Jahre sind verflossen, seit Heine von seinem langen Leiden durch den Tod erlöst wurde. Selbst das tragische Schicksal des Dichters hat seine Gegner in Deutschland nicht milder zu stimmen vermocht, mit dem Ergebnis, dass er in seinem Vaterlande von mancher neueren Berühmtheit in den Schatten gestellt wird, obgleich im Vergleich zu ihm sie alle nur zwergenhafte Epigonen sind. Adolf Strodtmann hat in seiner soeben bei Franz Duncker erschienenen Biographie ein wenig von dem Unrecht der Deutschen gegen Heine wieder gut gemacht. "Als Romantiker", so schreibt er über den Dichter, "als Romantiker, nicht als Soldat oder Verschwörer hatte er der Freiheit gedient. Sie war ihm ein gefesseltes Königskind, das er aus dem Kerker befreien, dem er als Herold auf schön geschmücktem Zelter voranreiten wollte. Aber die Genossen, mit denen er kämpfen sollte, waren keine himmelstürmenden Titanen, sondern ernste, puritanische Gesellen, und die Freiheit, bedeuteten sie ihm, sehe ganz anders aus, als das Bild, welches er sich in seinen Träumen von ihr gemacht: sie sei eigentlich gar kein schöne Prinzessin, sondern eine verständige Hausmutter, die ihr ganzes Volk in das gleichförmige Ehrengewand der Arbeit kleiden werde." Bekanntlich haben ihn bis zu seinem Tode zwei Frauen gepflegt: seine Frau Mathilde, und zuletzt Heine's "Mouche", jenes rätselhafte Mädchen. Wenigstens die Liebe der Frauen hat dem Dichter nicht gefehlt, und sie wird ihm auch nach seinem Tode bleiben, wenn seine Fehler und Irrtümer längst vergessen sein werden.
Paris, 20. August 1869. [Zum wahnsinnig werden.] Ein Mann hatte jüngst den Pfeiler einer Pariser Brücke erklettert, um sich in die Seine zu stürzen, als er gewaltsam von einem Vorübergehenden zurückgezogen und nach dem Grunde des beabsichtigen Selbstmordes befragt wurde. Eine unglückliche Heirat, antwortete er. Aha, fiel jener ein, ich verstehe, Untreue … Nicht doch, entgegnete der Gerettete, sie war mir nur zu treu. Aber hören Sie, was ich Ihnen mitteilen will, und sagen Sie, ob man es im Kopfe haben und noch länger leben kann. Ich habe eine Witwe geheiratet, die eine Tochter von 18 Jahren mit in die Ehe brachte. Diese gefiel meinem Vater, der als Witwer bei mir lebte; er nahm sie zur Gattin, und so wurde mein Vater mein Schwiegersohn und meine Stief- und Schwiegertochter wurde meine Mutter. Aber es sollte noch schlimmer kommen! Als meine Frau mir einen Knaben schenkte, da war mein Sohn der Schwager meines Vaters und zugleich als Bruder meiner Stiefmutter mein Onkel. Diese Stiefmutter, welche zugleich als Schwester meines Onkels meine Schwägerin war, schenkte ihrem Manne einen Sohn, der gleichzeitig nicht nur mein Bruder, sondern auch mein Enkel war. Meine Frau war meine Schwiegermutter und meine Großmutter, denn die Frau meines Vaters war ihre Tochter; ich war der Mann meiner Frau und meiner Großmutter, also auch mein Enkel: und da der Mann der Schwiegermutter einer Person der Schwiegervater dieser Person ist, so ergibt es sich, dass ich auch mein eigener Schwiegervater bin. Außerdem aber … Genug, genug, rief der entsetzte Zuhörer aus, dabei muss man allerdings verrückt werden! Und damit schwang er sich auf den Brückenpfeiler, von dem er den andern herabgezogen hatte, und stürzte sich selber in die Flut.
Berlin, 22. August 1869. [Prostitution.] Nach amtlicher Mitteilung zählt Berlin gegenwärtig 24.500 der Prostitution verfallene Frauenzimmer – mehr als im gesamten Textilgewerbe tätig sind.
Berlin, 21. September 1869. [Universitäten.] Während des jüngsten Winterhalbjahres zählten die 9 preußischen Universitäten 790 Lehrer (davon 408 ordentliche Professoren) und 7406 immatrikulierte Studenten, davon die meisten in Berlin (2258), gefolgt von Breslau (880), Bonn (875) und Halle mit 838 Studenten.
Berlin, 12. November 1869. [Die Hörigkeit der Frau.] Unter diesem Titel ist soeben bei F. Berggold das neueste Werk von John Stuart Mill erschienen ("The Subjection of Women"). Hierin versucht Mill zu begründen, dass das Princip, wonach die jetzigen Beziehungen zwischen den beiden Geschlechtern geregelt werden – nämlich die gesetzliche Unterordnung des einen Geschlechtes unter das andere – an und für sich ein Unrecht und eines der wesentlichsten Hindernisse für eine höhere Vervollkommnung der Menschheit sei. Die interessante Begründung dieser Ansicht geht von philosophischem Standpunkte und echter Humanität aus, und wenn auch erst die Zukunft entscheiden kann, was an diesen neuen Ideen lebensfähig ist, so wäre es doch Beschränktheit und Hochmut, sie absolut verwerfen zu wollen, nur weil sie neu sind. Auch uns dünkt es, als ob wir am Anfang großer socialer Veränderungen stehen. Solche vollziehen sich langsam; und Keiner, der den Keim hat pflanzen sehen, erlebt die Volljährigkeit des Baumes.
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Unfehlbarkeit: Diskussion (2)
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Wien, 10. August 1869. [Zur Klosterfrage.] Auf der Volksversammlung zur Klosterfrage, zu welcher sich gestern abend 5000 Menschen eingefunden hatten, fand die Rede des Ludwig Eckhardt besonderen Beifall. Er sagte: Meine Herren! Diejenigen, welche sagen: Die religiöse Freiheit gebietet es, die Klöster zu belassen, sollen uns erst religiöse Freiheit geben. In einem Staate, wo Jude und Christ nicht gemeinsam vor den Ehealtar treten dürfen, gibt es keine religiöse Freiheit! (Langanhaltender stürmischer Beifall.) Die Existenz unfreier Menschen gefährdet den Staat. An der Sklaverei wäre Amerika fast zu Grunde gegangen. Wer selber keine Freiheit hat, untergräbt die Freiheit anderer Menschen. (Bravo.) Das Klosterleben brandmarkt die Natur. Es ist kein Loblied auf die Gottheit; es ist eine Lästerung derselben. (Minutenlanger Applaus.) Das Cölibat hat die Folge, dass es das Concubinat erzeugt, und schuldlose Opfer verbotener Liebe unter die Proletarier wirft. Wir müssen trachten, dass auch der Priester ein freier Bürger werde. (Bravo! Bravo!) Als wir Exilierten im Jahre 1861 nach Wien kamen, was fanden wir hier vor? Den dumpfen Geist des Concordats, und den lasziven Tanz des Cancan. (Stürmischer Zuruf.) Das, meine Herren, sind zwei Blüten, die aus Einer Wurzel emporwachsen. Die arme Nonne in Krakau ist ein Bild unseres Volkes. Unser Volk ist auch vermauert gesessen in verpesteter Luft. Meine Herren: Ein Concil steht am Horizont. In diesem Concil werden die Bischöfe den Papst als unfehlbar erklären. Das wollen wir nicht dulden. (Rufe: Nein!) Sagen wir dem Schöpfer des Concordats: "Herr Cardinal! Sie haben das Ihre getan, jetzt tun wir das Unsere! Fort mit den Klöstern, fort mit dem Concordat, fort mit der Lästerung, dass ein Mensch unfehlbar sein sollte!" (Großer Jubel, Hochrufe.)
Berlin, 17. September 1869. [Der Papst und das Concil, von Janus. I.] Diese kraftvolle, jüngst erschienene Schrift ist die erweiterte Neubearbeitung einer Reihe von Artikeln aus der "Augsb. Allg. Ztg.". Sie zeigt in aller Deutlichkeit, dass die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit zwar den Glauben lästert und den gesunden Menschenverstand verspottet, aber aus Sicht der päpstlichen Machtpolitik ebenso logisch und konsequent, wie für den inneren Frieden der Staaten gefährlich ist. Dafür reicht schon der Anspruch der Kirche, dass ihr zur Durchführung ihrer Gebote außer der moralischen noch immer die physische ebenso wie die politische Gewalt zukomme. Schon jetzt steht fest, dass von den Sätzen des unseligen Syllabus auch die Lieblingstheorie der Päpste, wonach die Fürsten und Obrigkeiten bei Strafe des Bannes der Kirchengewalt zur Vollstreckung ihrer Urteile den Arm leihen müssen, dem Concil zur Annahme unterbreitet wird. Folgerichtig wäre dann auch, meinen die Janus-Verfasser, die Inquisition nicht nur als in früheren Zeiten gerechtfertigt zu betrachten, sondern bei dem großen Unglauben der heutigen Zeit sogar erneut einzuführen. In der Tat hat kürzlich die Civiltà cattolica die Inquisition ein "erhabenes Beispiel socialer Vollkommenheit" genannt (un sublime spectacolo della perfezione sociale). Und dass in jüngster Zeit rasch hintereinander mehrere der übelsten Schlächter und Mordbrenner der spanischen Inquisition selig gesprochen wurden, ist ebenso abstoßend wie für den römischen Geist kennzeichnend.
Berlin, 18. September 1869. [Papst und Concil. II.] Betrachten wir weiterhin die Pläne des Concils, die Sätze des Syllabus in positive Kirchengesetze umzuwandeln. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass der Syllabus fast alles ablehnt, was heut allgemein als Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens in der modernen Gesellschaft anerkannt wird. So verurteilt er (Satz 77-79) die Anschauung von der Freiheit des Gewissens und des religiösen Bekenntnisses. Die Freiheit des Gottesdienstes erzeugt nach dem Syllabus Sittenlosigkeit und die Pest des Indifferentismus. Ob daraus die Pflicht der protestantischen Staaten abzuleiten ist, den Katholiken die freie Glaubensausübung zu untersagen, vergisst der Syllabus allerdings mitzuteilen. Dafür verwirft er entschieden (Satz 80) die Ansicht, dass der Papst sich jemals mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Civilisation versöhnen werde. Und in der Tat: wie schon Innozenz III. 1215 die Magna Charta für null und nichtig erklärte und ihre Verfasser mit den Bannfluch belegte, so kämpfte und kämpft die Kirche auch heute gegen jegliche Verfassung, die den Bürgern das Recht einräumt, über ihr eigenes Geschick mitzubestimmen. Gegen die belgische Verfassung von 1832, welche doch von allen Seiten als ein wahrer Segen des Landes bezeichnet wird, erließ Gregor XVI. seine berühmte, jetzt von Pius IX. bestätigte Encyclica, worin die Gewissensfreiheit eine wahnsinnige Absurdität, die Pressefreiheit ein pestartiger Irrwahn genannt wird. Und mit einer Dreistigkeit sondergleichen hat Pius IX. im Juni 1868 das österreichische Staatsgrundgesetz nicht nur in einzelnen kirchenfeindlichen Sätzen verurteilt, sondern gleich in seiner Gesamtheit für "immerdar ungültig" erklärt. Bedenkt man, dass dieser weltfremde Despot nunmehr der ganzen katholischen Kirche das Schandmal einer für alle Zeiten erklärten päpstlichen Unfehlbarkeit aufdrücken will, dann kann man für die katholischen Mitchristen und Mitbürger nur tiefes Mitgefühl empfinden.
Paris, 22. September 1869. [Pater Hyacinth.] Der bekannte Pater Hyacinth, als Prediger in Notre Dame der beliebteste Priester von Paris, hat einen Brief nach Rom gesandt, der das größte Aufsehen machen wird. Darin heißt es: "Die Kirche durchschreitet eine der heftigsten, dunkelsten und entscheidendsten Krisen ihres Bestehens auf Erden. Vor dem Heiligen Vater und vor dem Concil erhebe ich meinen Protest als Christ und als Priester gegen jene Lehre und Praktiken, welche sich römisch nennen, aber nicht christlich sind, und welche in ihrem immer kühneren und verderblicheren Vordringen darnach trachten, die Verfassung der Kirche, Form und Inhalt ihrer Lehre bis auf den Geist ihrer Liebe selbst zu verändern. Ich protestiere gegen die ebenso gottlose als unsinnige Scheidung, welche man zu bewerkstelligen sucht zwischen der Kirche, die unsere Mutter in alle Ewigkeit ist, und der Gesellschaft unseres 19. Jahrhunderts, deren Söhne wir in der Zeit sind und gegen die wir auch Pflichten und Anhänglichkeiten haben. Ich ziehe mich gleichzeitig aus dem Kloster zurück, das sich für mich unter den neuen Umständen in eine Gewissenshaft verwandelt. Und endlich appelliere ich an Dein Gericht, Herr Jesus: in Deiner Gegenwart, zu Deinen Füßen schreibe ich diese Zeilen, nachdem ich viel gebetet, viel nachgedacht, viel gelitten und viel gewartet habe."
Berlin, 23. September 1869. [Der bischöfliche Hirtenbrief aus Fulda.] Aus dem Brief der deutschen Bischöfe vom 6. September hat man versucht zu entziffern, wie sich dieselben denn zum Concil stellen. Man kann aber nur feststellen, dass sie jede klare Antwort sorgsam vermieden haben. Sie behaupten, das Concil werde "nie und nimmer eine neue Lehre verkünden". Leider haben wir von diesen Bischöfen keinen Widerspruch gegen das 1854 verkündete Dogma von der unbefleckten Empfängnis Mariä vernommen. Dabei lässt sich in der Bibel nicht der leiseste Hinweis dafür finden, dass nicht nur Maria den Jesus, sondern bereits die Mutter Mariä diese ihre Tochter unbefleckt empfangen habe. Wenn also die deutschen Bischöfe selbst von dieser absolut unbiblischen Lehre anzunehmen bereit waren, sie sei von alters her der fromme Glaube aller Christen gewesen – was werden wohl diese Bischöfe sich nicht als uralten Christenglauben aufschwatzen lassen?
Berlin, 18. November 1869. [Katholische Geldgier.] Die "Elb. Z." erhebt Klage über die finanzielle Begünstigung der Katholiken in Preußen. Sie schreibt: "Die Katholiken bilden im Staat jetzt etwa den fünften oder sechsten Teil der Einwohner, aber sie beziehen für kirchliche Zwecke drei oder vier Mal so viel wie die etwa 20 Millionen Protestanten. Und während evangelische Consistorialräte ein jährliches Gehalt von 300 Talern erhalten, beziehen die katholischen Bischöfe in unverblümtester Schamlosigkeit vom Staate fürstliche Gehälter von 10.000-12.000 Talern."
München, 18. November 1869. [Gutachten zum Concil.] Die "A. A. Z." beginnt mit der Veröffentlichung des Gutachtens, welches die hiesige theologische Facultät zu den rechtlichen Folgen einer erklärten Unfehlbarkeit erstellt hat. Es zeigt auf, dass dadurch das gesamte bisherige Verhältnis von Staat und Kirche principiell umgestaltet und in Frage gestellt würde. Christus selber hat die Selbständigkeit und das Recht der weltlichen Gewalt unmissverständlich anerkannt: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt", sowie "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist." Höchst ungewiss ist jedoch, ob mit dem Ausspruch "Gebt Gott, was Gottes ist" wirklich die Herrschaft der hierarchischen Amtskirche gemeint ist, oder nicht vielmehr die Lebensführung und die persönliche Frömmigkeit des einzelnen. Weil sich die Erklärung der Unfehlbarkeit auf alle Päpste erstrecken würde, der Gegenwart und der Zukunft ebenso wie der Vergangenheit, so müssten damit von nun an auch früher erhobene Ansprüche von jedem Katholiken geglaubt werden, wenn er nicht die ewige Seligkeit verlieren wolle. Dazu gehört auch der Anspruch von Leo X. aus der Bulle Unam sanctam, wonach die weltliche Gewalt des Staates der geistlichen Gewalt der Kirche unterworfen sei. Und die Frechheit, mit welcher der Papst bereits das österreichische Staatsgrundgesetz für "immerdar ungültig" zu erklären gewagt hat, zeigt, dass die Gefahr der permanenten Verwirrung und Aufhetzung der Katholiken für alle Staaten eine sehr reale und nach Verabschiedung der Unfehlbarkeitslehre geradezu eine zwangsläufige ist.
Wien, 22. November 1869. [Das Vermögen der katholischen Kirche] in Österreich ist unter dem Schutze des Concordates von 1845 bis 1865 von 186 auf 230 Millionen Gulden gestiegen, was einer Vermehrung um mehr als 23 Procent entspricht. Das Vermögen sämtlicher übrigen nicht katholischen christlichen Gemeinschaften belief sich dagegen im Jahre 1864 nur auf 12 Millionen Gulden.
Berlin, 30. November 1869. [Religiöses Elend.] Am vergangenen Donnerstag sprang eine junge Dame unweit des zoologischen Gartens in den Canal, um ihrem Leben ein Ende zu machen; die Krinoline hielt sie aber so lange über Wasser, dass es gelang, sie wieder lebend dem kalten Elemente zu entreißen. Dieselbe ist katholischer Confession und seit einigen Jahren die Braut eines protestantischen studiosus iuris. Letzterer hatte seine Braut überredet, abwechselnd den Gottesdienst in der katholischen und in der evangelischen Kirche zu hören, schließlich auch das heilige Abendmahl in der evangelischen Kirche zu nehmen. Als ihr katholischer Beichtvater davon erfuhr, verweigerte er ihr die Absolution; durch das evangelische Abendmahl sei sie aus der katholischen Gemeinschaft ausgeschlossen; erst wenn sie das Verhältnis zu ihrem Bräutigam gelöst hätte, wolle er sie durch Bußen wieder zur alleinseligmachenden Kirche zurückführen. In ihrer Verzweiflung tat die junge Frau den oben berichteten Schritt. Was wohl Christus zu solchen Priestern sagen würde, die Milde und Nächstenliebe stets im Munde führen, jedoch in ihrem Handeln nur Kälte und Unerbittlichkeit zeigen?
Rom, 1. December 1869. [Das Latein der Bischöfe.] Bisher sind gerade die Länder, deren Bedeutung in der Kirche am geringsten ist, wie Albanien, Palästina, Armenien, Mesopotamien, Anatolien, Curdistan, Cappadocien, Cilicien, Chaldäa etc. unter den eingetroffenen Prälaten am Besten vertreten. Mit dem Latein dieser Bischöfe ist es fast ausnahmslos schlecht bestellt. Es reicht kaum zu einem Privatgespräch, geschweige denn zu einer Disputation. Wie die Discussionen verlaufen werden, kann man sich vorstellen: das Feld wird denen bleiben, die es verstehen, in dieser Sprache sich einigermaßen auszusprechen. Und die anderen? Nun, sie werden zustimmen, ohne sich an der Debatte zu beteiligen. Übrigens erscheint Cardinalstaatssecretär Antonelli als ziemlich teilnahmsloser Zuschauer bei diesem Schauspiele, für das er dem Vernehmen nach von Anfang an wenig Sympathie hatte.
Weiter im nächsten Kapitel: Konzil der Unfehlbarkeit
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