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Feierliche Eröffnung
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“Ihr, ehrwürdige Brüder, seid da, um über die Angriffe der fälschlich so genannten Wissenschaft mit Uns unter Anleitung des Heiligen Geistes zu richten.”
Rom, 8. December 1869, abends. [Die Eröffnung des Concils.] Die feierliche Eröffnung des Concils hat heute stattgefunden. Die Ceremonie begann um 9 Uhr Morgens, und war um 3 Uhr Nachmittags beendigt. In seiner Eröffnungs-Ansprache sagte Pius IX.: "Ehrwürdige Brüder! Was Wir in allen Gelübden und Gebeten von Gott erbaten, das ist zu Unserer höchsten Freude durch Gottes herrliche Güte Uns verliehen worden. Deshalb frohlockt Unser Herz und wird mit unglaublichem Troste erfüllt, dass Wir an diesem Tage voll glücklichster Vorbedeutung, nämlich an dem Tage der Empfängnis der unbefleckten Gottesgebärerin, der Jungfrau Maria, euch anwesend sehen und eures hocherfreulichen Anblicks genießen. Ihr, ehrwürdige Brüder, seid da, um mit Uns Zeugnis abzulegen von dem göttlichen Worte, und um über die Angriffe der fälschlich so genannten Wissenschaft mit Uns unter Anleitung des Heiligen Geistes zu richten."
Rom, 12. December 1869. [Vom Concil.] Die unter den Bischöfen herrschende Stimmung ist noch widerwilliger, als man erwartet hatte. Die ungarischen Bischöfe sind einstimmig gegen die Erklärung der päpstlichen Unfehlbarkeit, desgleichen fast alle österreichischen und viele französische Bischöfe. Besonders ungünstigen Eindruck hat es bei der Opposition gemacht, dass sie erst 24 Stunden vor Eröffnung des Concils Nachricht von der in aller Heimlichkeit vorbereiteten Eröffnungsbulle erhielt. Deren wichtigster Abschnitt de jure et modo proponendi macht das Concil zur reinen Zustimmungs-Maschine der Vorstellungen des Papstes, der sich auch das Recht anmaßt, alle Beamten des Concils zu ernennen. Noch stärkeren Unwillen erregt die Zusammensetzung der Glaubens-Congregation, die bei den Verhandlungen des Concils die einflussreichste Stellung besitzt, und der voraussichtlich nur eifrige Anhänger der Unfehlbarkeit angehören werden.
Rom, 13. December 1869. [Confusion auf dem Concil.] Über die Sitzung vom 10. wird jetzt Genaueres bekannt. Zuerst sprach sich der Erzbischof von Temesvar gegen die Geschäftsordnung aus; er wurde zur Ordnung gerufen. Dem Primas vom Ungarn, der ihm beisprang, ging es ebenso. Daraufhin erhob sich der Bischof Dupanloup nach einer starken Bemerkung in gutem Französisch, und verließ die Halle, mit ihm der Erzbischof von Paris und etwa hundert andere Prälaten, woraufhin sich die Versammlung auflöste. Zu den sonstigen Klagen kommen immer mehr Beschwerden über die Concilshalle. Der Seitenflügel des Petersdomes, den man dafür hergerichtet hat, ist unerträglich kalt, und die Akustik ist so schlecht, dass niemand zu verstehen ist, der in leiser oder auch nur normaler Lautstärke spricht. Dieser Zustand wird noch verschlimmert durch das unsinnige Verbot, die Reden im voraus zu drucken und zu verteilen. Man hat geradezu den Eindruck, als sollte die Verständigung der Bischöfe untereinander absichtlich nach Kräften erschwert werden. Das jetzt erschienene amtliche Verzeichnis der zum Concil anwesenden Prälaten nennt 51 Cardinäle, 8 Patriarchen, 123 Erzbischöfe, 523 Bischöfe, 6 Äbte nullius dioecesis, 21 Äbte mit Bischofsrecht und 23 Patres-Generäle der regulären Orden. Von den Bischöfen sind 200 in partibus infidelium, also Missions- oder Titularbischöfe ohne Gemeinde und Diöcese, die keine Gemeinde vertreten oder sich diese erst erwerben sollen.
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Diese Bischöfe “in partibus infidelium” sollten sich im weiteren Verlauf als entscheidend herausstellen. Wie der Artikel vom 25. Januar 1870 aufführt, hatten die 12 Millionen deutsche Katholiken 14 Bischöfe in Rom, während allein der Kirchenstaat - mit weniger Einwohnern als Berlin - 62 Bischöfe stellte. Tatsächlich saßen, siehe Artikel vom 5. Juli 1870, mehr italienische Prälaten im Konzil als Vertreter aller anderen Länder zusammen.
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Ausschüsse, Anträge, Majoritäten
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Rom, 25. December 1869. [Excommunicationen.] Eine Correspondenz der Liberté gibt erbauliche Auszüge aus der soeben erlassenen constitutio, die feststellt, wer der Excommunication anheimfallen soll. Dazu gehören alle, die ein Buch lesen, das auf dem Index steht, die sich an der Freimaurerei beteiligen, die mit Personen verkehren, die vom Papst namentlich excommuniciert wurden, dazu diejenigen, welche auch die Geistlichen unter die weltliche Gerichtsbarkeit stellen wollen und dergleichen mehr. Was soll man da von dem Concil erwarten? Dieser törichte Erlass verdiente nur mitleidiges Lächeln, aber die französische Regierung ist darüber wirklich in Aufregung geraten.
Rom, 31. December 1869. [Stand des Concils.] Die schon erwähnte, am 14. December stattgefundene Wahl in den Ausschuss für Glaubensfragen (24 Mitglieder) verlief wie erwartet: die Opposition brachte nicht Eines ihrer Mitglieder hinein. Die Majorität setzte ihre gesamte Namensliste rücksichtslos durch: ohne Ausnahme Anhänger der Unfehlbarkeit. Und die Geschäftsordnung für das merkwürdige Concil, gegen die sich die unabhängigen Stimmen ebenso nachdrücklich wie vergeblich erhoben haben, sorgt sehr weise dafür, dass keine freie Debatte aufkommen kann, dass in den Ausschüssen die ergebensten Cardinäle den Vorsitz führen, ein überraschender Widerspruch kaum möglich ist, jegliche Opposition leicht erstickt werden kann. Die Unfehlbarkeit ist wirklich schon jetzt der Angelpunkt des Concils geworden, obwohl officiell noch gar nicht darüber verhandelt wird. Man umgibt das neue Dogma mit einer wunderbaren Glorie, rühmt es als Beginn einer neuen Welt-Ära, als eine neue Ausgießung des Heiligen Geistes. Hinter den Culissen macht allerdings die Äußerung einer "sehr hochgestellten Persönlichkeit" (Antonelli?) die Runde, nach welcher die Idee der Unfehlbarkeit einer "Hysterie der Speichellecker" in der Umgebung des Papstes entsprungen sei. Offenbar fördere der Umgang mit absoluten Herrschern das Bedürfnis nach immer stärkeren Schmeicheleien, bis man schließlich den Monarchen mit dem Staat und den Papst mit der Kirche gleichsetze: abgeschmackter Absolutismus sei beides.
Rom, 7. Januar 1870. [Unfehlbarkeit.] Inzwischen ist der Wortlaut der Proposition bekannt, mit welcher die Concils-Majorität die Verkündigung der päpstlichen Infallibilität beantragen will: "Von der heiligen ökumenischen vaticanischen Synode erbitten die unterzeichneten Väter demütig und inständig, mit klaren und jeden Anlass zum Zweifel ausschließenden Worten feststellen zu wollen, dass die Autorität des römischen Papstes die höchste und deshalb irrtumslos sei, wenn sie in Sachen des Glaubens und der Sitten feststellt und vorschreibt, was von allen Christgläubigen zu glauben und zu halten oder zu verwerfen und zu verdammen sein soll."
Rom, 12. Januar 1870. [Concil.] Den gemischten Ehen sollen neue Hindernisse bereitet werden. Anstatt wie bisher von den künftigen Eheleuten das Versprechen zu verlangen, dass ihre Kinder in der katholischen Religion erzogen werden sollen, soll zukünftig die Eheschließung nur vorgenommen werden, wenn sich der "ketzerische Teil" zum katholischen Glauben bekehrt. Dass diese Anmaßungen gerade durch ihren Excess dem Zwecke zuwiderlaufen, muss jedem Besonnenen einleuchten; aber man darf nicht vergessen: wenn hunderte von Personen sich versammeln, um ihren Ansichten zum Siege zu verhelfen, so haben sie naturgemäß die Neigung, sich eine größere Gewalt beizumessen, als sie in Wahrheit besitzen. Das zeigt sich auch hier: die Herren Prälaten berauschen sich an ihren eigenen Träumen, die Luft von Rom hilft ein wenig nach.
Rom, 17. Januar 1870. [Zur Geschäftsordnung.] Mit einer unverkennbaren Erhitzung der Gemüter geht die Klage über die unfruchtbare Geschäftsordnung des Concils Hand in Hand. Besonders macht es sich als immer drückenderes Hemmnis geltend, dass es den Mitgliedern der Versammlung verwehrt ist, sich in der Sitzung zu Worte zu melden, um auf irgend welche Behauptung eines Redners eine unmittelbare Erwiderung zu geben. Die Notwendigkeit, vorher ein schriftliches Gesuch an die Commission einzureichen, und die mittlerweile verfließende Zeit benimmt solchen Vorgängen jegliches Interesse.
Bayreuth, 19. Januar 1870. [Freimaurer zum Concil.] In einem Rundschreiben der Großloge zu Bayreuth heißt es zu den Vorwürfen des Papstes: "Unser der Humanität geweihte Bund ist kein Institut der katholischen Kirche und der römischen Hierarchie nicht untertan. Solange der human und frei gesinnte Staat unser Recht schützt und uns in Freiheit leben lässt, brauchen wir uns um den Bannstrahl aus Rom nicht zu kümmern. Wir bekennen uns nur eines Vorwurfes schuldig, den uns der Papst gemacht, nämlich, dass wir "gegen Andersdenkende Duldsamkeit üben". Wenn der Papst in dieser Duldsamkeit ein Verbrechen findet, so ist dasselbe in den Augen der gesitteten Welt eine Tugend, deren wir uns nicht zu schämen brauchen. Der Papst irrt jedoch, wenn er uns eine 'unsittliche Secte' nennt: denn das Sittengesetz ist unser Lebensprinzip."
München, 21. Januar 1870. [Döllinger zur Unfehlbarkeit.] Stiftprobst v. Döllinger, eine der bedeutendsten theologischen Celebritäten unseres Landes, hat sich in einer vielbeachteten Erklärung scharf gegen die Lehre von der Unfehlbarkeit ausgesprochen. In seinem ausführlichen Gutachten heißt es: da nach der neuen Lehre die unfehlbare Wahrheit einzig beim Papste liegt, so können ihr auch 400 oder 600 fehlbare Bischöfe weder etwas wegnehmen noch etwas hinzufügen. Demnach ist der Papst unfehlbar, weil er selber es sagt, und so löst sich denn alles in das Selbstzeugnis des Papstes auf. Dabei hat doch vor 1840 Jahren einmal ein unendlich Höherer gesagt (in Joh. 5, 31): "Wenn ich mir selber Zeugnis gebe, so ist mein Zeugnis nicht glaubwürdig."
Rom, 22. Januar 1870. [Geschäftsordnung.] Hier wird ein Schreiben bekannt, in welchem die deutschen Bischöfe konkrete Vorschläge zur Geschäftsordnung unterbreitet haben. Darin wird angeregt: "Wenn sich übrigens auch eine Örtlichkeit finden ließe, wo auch diejenigen Prälaten, welche eine schwache Stimme besitzen, ohne Schwierigkeiten zu verstehen wären, so würde es doch von hohem Nutzen sein, dass den Vätern vor Augen läge, was in den vorhergehenden Sitzungen geredet worden. Es handelt sich um Angelegenheiten von äußerster Wichtigkeit, und nicht selten ist die Hinzufügung oder Abänderung eines einzigen Wortes ausreichend, um den Sinn zu verfälschen. Außerdem wäre es wünschenswert, wenn den Vätern gestattet würde, ihre Ansicht über bedeutendere Angelegenheiten schriftlich mitzuteilen; auf diese Weise könnte nämlich Vieles hinzugefügt werden, zu dessen Auseinandersetzung in der allgemeinen Sitzung weder die Zeit noch die Lungen der Redenden hinreichen."
Rom, 23. Januar 1870. [Protest der Bischöfe.] Inzwischen ist die Protestation der deutschen und österreichischen Bischöfe bekannt geworden, worin sich dieselben "auf ihr gutes, nicht von der päpstlichen Gnade abhängiges, sondern durch göttliche Institution ihnen gebührendes Recht" berufen und die Beibehaltung der Geschäftsordnung des Tridentinischen Concils verlangen. Hier heißt es: "Es ist von größter Bedeutung, was Ew. Heiligkeit in Punkt II. über innere Norm und Ordnung verfügt hat: nämlich über Recht und Befugnis im Vorlegen der Geschäfte, welche in der heil. ökumenischen Synode verhandelt werden sollen. Es fehlt nicht an Stimmen, welche das so auslegen, als würde dadurch das Recht der Väter nicht anerkannt, dass ein Jeder dem Concil vorlegen darf, was er dem öffentlichen Wohle Förderliches beibringen zu können glaubt, sondern es werde dies lediglich als Ausnahme und Gnade gestattet." Wie bereits gemeldet, war die Protestation aber gänzlich vergebens. Wie denn überhaupt jegliche Mahnung an diesem besessenen und verblendeten Manne abprallt, den die Bischöfe in pflichtschuldiger Ehrfurcht noch immer den "Heiligsten Vater" nennen.
Rom, 24. Januar 1870. [Adresse gegen die Unfehlbarkeit.] In ihrer an den Papst gerichteten Adresse gegen die Unfehlbarkeit schreiben die deutschen und österreichischen Bischöfe: Heiligster Vater! Es ist ein gedrucktes Schreiben an uns gelangt, in welchem von der ökumenischen Synode verlangt wird: dieselbe möge die höchste und darum vom Irrtum freie Autorität des römischen Papstes feststellen, wenn er in Sachen des Glaubens und der Sitten der Gesamtheit der Gläubigen Vorschriften erteile. Unzweifelhaft ist es, dass alle Christgläubigen den Decreten des apostolischen Stuhles wahrhaften Gehorsam schulden; dazu lehren unterrichtete und fromme Männer: was der Papst über Glauben und Sitten redend ex cathedra feststelle, das sei auch ohne die Zustimmung der Kirchen unumstößlich, auf was für Weise auch immer es kundgetan sei. Dennoch darf man nicht stillschweigend darüber hinweggehen, dass nichtsdestoweniger noch gewichtige aus den Schriften und Handlungen der Väter der Kirche, aus echten geschichtlichen Urkunden und der katholischen Lehre selbst hervorgegangene Schwierigkeiten übrig bleiben, vor deren vollständiger Lösung es ein vergebliches Unternehmen bleiben könnte, wenn man die im obengenannten Schreiben empfohlene Lehre dem christlichen Volke als eine von Gott geoffenbarte vorlegen würde. Aber vor einer Discussion dieser Dinge sträubt sich das Herz, und wir ersuchen, auf Dein Wohlwollen vertrauend, dass uns eine Notwendigkeit, über solche Dinge zu beraten, nicht möge auferlegt werden. Überdies, da wir unter den bedeutenderen katholischen Nationen des bischöflichen Amtes pflegen, so kennen wir den Stand der Dinge bei denselben aus täglicher Erfahrung; uns ist aber bekannt, dass die verlangte Definition den Feinden der Religion neue Waffen liefern würde, um auch bei den besseren Männern Feindschaft gegen die katholische Sache zu erregen.
Rom, 25. Januar 1870. [Concils-Arithmetik.] Um die Dinge, die in Rom vorgehen, zu begreifen, muss man Folgendes ins Auge fassen: Die 12 Millionen deutschen Katholiken sind gerade einmal mit 14 Bischöfen auf dem Concil vertreten. Dagegen zählt allein der kleine Kirchenstaat, mit weniger Einwohnern als die Stadt Berlin, 62 Bischöfe, die alle im Concil ihren Sitz haben. Neapel und Sicilien haben 68 Bischöfe geschickt. Mehr als 100 Bischöfe Spaniens von diesseits und jenseits des Oceans sind als bloße Handlanger der Italiener gekommen. Die 200 Missionsbischöfe und apostolischen Vicare in partibus infidelium aus Asien, Afrika und Australien leben ganz aus des Papstes Tasche, der ihnen selbst Wohnung und Nahrung gibt. In den zwei Jahren seit der Ankündigung des Concils hat der Papst nicht weniger als 89 dieser Bischöfe neu geschaffen, die keine Gemeinde, nichts als sich selbst vertreten. Wahrlich absurd: der Papst musste lediglich zählen, wie viele Stimmen ihm für die Unfehlbarkeit fehlten, um sich dann selber die Majorität dafür zu ernennen. – Pardon, es war natürlich der Heilige Geist, der die Ernennungen vorgenommen hat, und der Papst hat sie bloß unterschrieben.
Berlin, 27. Januar 1870. [Die Gegenadresse der deutschen Bischöfe.] Die deutschen Bischöfe haben sich mit höchst seltsamen Gründen gegen das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit gewandt. Im wesentlichen sagen sie nämlich: wir sind nicht gegen die päpstliche Unfehlbarkeit, aber ihre Erklärung erscheint uns nicht opportun, und eine Discussion derselben wäre uns schmerzlich. Nun, auf diese Art von Einwendungen hat die Unfehlbarkeits-Adresse bereits die Antwort gegeben, und nachdem diese über 400 Unterzeichner gefunden hat, werden die Jesuiten nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Konnten die deutschen Bischöfe nicht den Mut finden, wie ihn Döllinger fand, dann ist sicher, dass die fanatische Mehrheit über diese Bedenken zur Tagesordnung schreiten wird. So werden denn demnächst auch die Herren in Deutschland es als von Gott geoffenbart lehren: der Papst ist irrtumsfrei; und das heißt doch wohl nach menschlichen Ermessen: er ist Gott gleich.
Rom, 4. Februar 1870. [21 Canones.] Die "A. A. Z." hat den ersten Teil der Canones veröffentlicht, welche als Schema "Von der Kirche Christi" demnächst im Concil beschlossen werden sollen. Darin sind die wichtigsten Sätze des umstrittenen Syllabus in positive Kirchengesetze umgewandelt worden. Hier einige Beispiele: Canon II: So einer sagt: die Kirche der göttlichen Verheißung sei nicht eine äußerliche und sichtbare Gemeinschaft, sondern durchaus eine innerliche und unsichtbare – der sei verflucht. Canon V: So einer sagt: die Kirche Christi sei nicht eine zur Erlangung der ewigen Seligkeit durchaus notwendige Gemeinschaft, oder: die Menschen könnten durch die Ausübung einer jeden Religion selig werden – der sei verflucht. Canon X: So einer sagt: die Kirche sei nicht eine vollkommene Gemeinschaft, sondern sie stehe in der Weise in der bürgerlichen Gesellschaft oder im Staat, dass sie der weltlichen Herrschaft unterworfen sei – der sei verflucht. So ist denn in der Tat eingetreten, was seinerzeit der Fürst Hohenlohe vorhergesehen hatte. Es muss sich zeigen, wie sich die Regierungen zu solchen Anmaßungen stellen werden, und wie sie mit der Brandfackel fertig werden, die Rom zwischen die Gläubigen und ihre Staaten zu werfen sich anschickt.
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Geheimhaltung, Zensur, Wut auf die Presse
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Wie jede totalitäre Herrscher sah auch Pius IX. in der Öffentlichkeit einen Feind. Je deutlicher wurde, dass alle Persönlichkeiten von Gewicht das Unfehlbarkeitsdogma ablehnten, desto mehr neigte er dazu, der Presse die Schuld daran zu geben ... auch er ein Geistesverwandter von Honecker, Trump und Co.
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Rom, 20. Januar 1870. [Geheimhaltung.] Obgleich man bisher geleugnet hat, dass die Bischöfe ein Gelübde zur Verschwiegenheit hätten ablegen müssen (und obwohl wir uns nicht erinnern können, dass Christus jemals einen Menschen hinweg gewiesen hätte, um mit den Jüngern geheime Dinge zu besprechen), sind die Concilsväter jetzt noch einmal in einem Brief des Concils-Secretärs ausdrücklich zur Wahrung der Geheimhaltung ermahnt worden. Begründet wird dies damit, dass "bei der Zügellosigkeit der Tagesblätter viele große Übelstände aus dem Bruch des Geheimnisses hervorgehen".
Rom, 6. Februar 1870. [Ausweisung.] Seit Wochen ist bekannt, dass sich beim Papste eine zunehmende Wut über die ungünstigen Zeitungsberichte vom Concil angestaut hat. Die Wut zu stillen, brachte man ein Opfer: Hr. Dr. Albert Dressel, seit 30 Jahren in Rom ansässig und Correspondent der "Augsb. Allg. Ztg." hat am 4. Februar vom General-Secretär der römischen Polizei Befehl erhalten, Rom zu verlassen, weil er angeblich "Verfasser der feindlichen Artikel der 'Allg. Ztg.', d.h. der 'Römischen Briefe über das Concil'" sei. Obwohl die Zeitung versichert, dass Dr. Dressel nicht der Verfasser dieser Artikel ist, besteht man darauf, dass er Rom verlässt. Angeblich ging die Anweisung vom Papst selber aus: dieser wird schon wissen, warum er das Licht der Öffentlichkeit so ängstlich scheut wie der Teufel das Weihwasser.
Rom, 12. Februar 1870. [Jagd auf Zeitungscorrespondenten.] In den letzten Tagen wurde hier förmliche Jagd gemacht auf Correspondenten auswärtiger Zeitungen. Der Papst ist in höchstem Grade aufgebracht über die Berichte, die über das Concil nach außen dringen. Freilich ist es merkwürdig, dass trotz des strengen Eides der Verschwiegenheit, den die Bischöfe leisten mussten, sofort Alles bekannt wird, was im Concil vorgeht, und dass sogar der Wortlaut der Actenstücke bald nach ihrem Erscheinen in fremden Zeitungen zum Abdruck kommt.
Rom, 13. April 1870. [Censur.] Großes Aufsehen verursacht die hier angeordnete Beschlagnahme der Schrift des Bischofs v. Ketteler. Diese Maßnahme liefert eine treffliche Illustration von der angeblichen Neutralität des Papstes und der Freiheit, die man den Bischöfen zum Austausch ihrer Gedanken gelassen hat.
Rom, 4. Mai 1870. [Censur.] Angehörige der Concils-Minorität, die ihre Meinungen und Vorschläge drucken lassen wollen, erhalten dazu in Rom keine Erlaubnis mehr. Während den Anhängern der Unfehlbarkeit alle Zeitungen und Druckereien Roms offenstehen, müssen die Gegner derselben ihrer Schriften in Neapel oder Florenz drucken lassen. Vier sehr angesehene Bischöfe haben jüngst Broschüren gegen die päpstliche Unfehlbarkeit gerichtet: Dupanloup, Bischof von Orleans, die Cardinäle Schwarzenberg und Rauscher, und Bischof Hefele aus Rottenburg. Hefele hat in seiner Schrift erneut darauf hingewiesen, dass das sechste Concil (681 n. Chr.) den Papst Honorius wegen einer Irrlehre feierlich verdammt und dass die gesamte Kirche dies Urteil ohne Widerspruch angenommen hat. Bis zum 11. Jahrhundert hat es jeder Papst als Wahrheit beschworen, dass ein Concil den Papst wegen Häresie richten könne.
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Geschäftsordnungstricks
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Rom, 25. Februar 1870. [Neue Geschäftsordnung.] Mit Datum vom 22. Februar ist den Vätern das Decret mit der veränderten Geschäftsordnung zugegangen. Darin heißt es: "Der Heilige Vater hat beschlossen, einige besondere Regeln über die Discussionen der allgemeinen Congregationen zu erteilen, welche es gestatten, die zu behandelnden Fragen schneller und vollständiger zu prüfen. Nach der Verteilung des Schemas an die Väter werden die vorsitzenden Cardinäle eine Frist bestimmen, innerhalb welcher die Väter, die Einwendungen zu machen gedenken, diese schriftlich einzureichen haben. Wenn die Discussion sich mehr als billig in die Länge ziehen sollte, können die vorsitzenden Cardinäle, auf schriftlichen Antrag von mindestens 10 Vätern, an die General-Congregation die Frage stellen, ob die Debatte noch weiter fortgeführt werden soll. Nachdem durch Aufstehen oder Sitzenbleiben abgestimmt worden, werden sie den Schluss der Discussion aussprechen, wenn die Majorität der anwesenden Väter dafür ist. Dazu bemerkt unser Correspondent: "Man fragt sich, was an der neuen Geschäftsordnung mehr beeindruckt: ihre durchsichtige Absicht, oder ihre unehrliche Sprache. Die Absicht ist klar: man ist der Discussion müde, man will nicht länger anhören, auf welch dürftigen Grundlagen die Lehre von der päpstlichen Unfehlbarkeit ruht. Also schneller soll es gehen, und das wird es auch, denn nicht nur 10, sondern 400 eifrige Mitläufer stehen jederzeit bereit, auf einen Wink hin den Schluss der Debatte zu beantragen. Aber was sagt man? Man wolle die Fragen schneller und vollständiger prüfen. Das ist gelogen: wenn man dies ernsthaft wollte, müsste man, wie es die Minorität schon lange fordert, die Versammlungs-Protocolle den Vätern so bald als möglich zugänglich machen, und desgleichen die vorbereiteten Reden vor den Versammlungen drucken und verteilen. Genau dies tut man nicht: eine vollständige Discussion soll ja gerade verhindert werden."
Rom, 16. März 1870. [Protest.] Die Opposition, so ist hier bekannt geworden, hat auch gegen die revidierte Geschäftsordnung des Concils Protest eingelegt. Allerdings deutet nichts darauf hin, dass diesem Protest mehr Erfolg beschieden sein könnte, als den früheren Protesten in derselben Angelegenheit.
Rom, 25. März 1870. [Stroßmayer.] In der vorigen General-Congregation im Concil ging es wieder stürmisch zu. Der Orkan brach bei Gelegenheit eines Satzes aus dem ersten Schema los, in welchem dem Protestantismus die Vaterschaft und die Verantwortung für Naturalismus und Materialismus aufgebürdet wird. Der Bischof Stroßmayer wagte es, mit lauter Stimme zu behaupten, dass es auch unter den Protestanten manch brave und gute Leute, sogar gute Christen gebe. Die Worte waren das Signal zu einem allgemeinen Aufschrei. "Taceas! Ab ambone descendas!" erscholl es von allen Seiten. Nicht besser erging es dem Cardinal-Erzbischof von Prag, als er zu Gunsten Stroßmayer's eine Lanze zu brechen versuchte.
Berlin, 10. April 1870. [Concil und Protestantismus.] Wir haben gestern die merkwürdige Betrachtung Macaulay's über die Confessionen mitgeteilt: obgleich Wohlstand, Bildung und Kenntnisse in den protestantischen Ländern weitaus schneller fortgeschritten sind als in den katholischen, steht der Katholicismus noch immer unüberwunden da. Weiter als vor dreihundert Jahren ist der Protestantismus nicht vorgedrungen. Und jetzt urteilt das "unfehlbare" Concil: "Jedermann weiß ja, dass die Ketzereien, welche die Tridentinischen Väter verdammt haben (damit ist der Protestantismus gemeint), indem man die göttliche Unterweisung der Kirche verwarf und die religiösen Dinge dem Urteil jedes Einzelnen preisgab, allmählich in vielfache Secten sich aufgelöst haben, durch deren gegenseitige Widersprüche und Stänkereien endlich jeder Glaube an Christum bei Vielen erschüttert ist."
Rom, 20. April 1870. [Brief vom Concil.] Dr. Pichler schreibt uns aus Rom: Man staunt hier oftmals über die liberalen und verständigen Grundsätze so mancher Bischöfe und Priester, selbst manches Monsignore, die in vertrautem Freundeskreise kundgegeben werden. Freilich muss dies ganz im Geheimen geschehen. Besonders die deutschen Bischöfe werden in Rom die Erfahrung gemacht haben, dass der römische Clerus unter den Augen des Papstes und der Cardinäle weit weniger in kleinlicher Weise bevormundet ist, als der deutsche. Der römische Abbé geht ohne Bedenken in jedes Café, er geniert sich nicht im geringsten, auf offener Straße mit Personen des anderen Geschlechts zu verkehren oder gemeinsam mit Damen auf dem Corso zu fahren, er raucht gemütlich seine Cigarren u.s.f.
Rom, 24. April 1870. [Französische Note.] Die noch von dem Grafen Daru verfaßte Note an den Papst und das Concil ist gestern überreicht worden. Sie enthält ausdrücklich keine Drohung: "Ihre Intervention ist lediglich moralisch, und sie beschränkt sich auf Dinge, welche unbestreitbar zur Competenz der öffentlichen Gewalt gehören." Doch weist sie deutlich auf die möglichen Folgen der dem Concil vorliegenden Decrete hin: "Die wichtigsten Rechte der Staaten, die Grundlagen ihrer politischen Constitution, ihre Gesetzgebung in Sachen des Eigentums, der Familie, des Unterrichts könnten jeden Tag von der kirchlichen Autorität in Frage gestellt werden." Aber Daru stellt auch klar: "Die Unabhängigkeit der bürgerlichen Gesellschaft ist heute factisch wie rechtlich über alle Angriffe, über alle Controverse hinaus. Die Gewissensfreiheit und die Freiheit des Cultus, welche allgemein anerkannt sind, machen selbst die Hypothese einer Herrschaft der Religion über die bürgerliche Gesellschaft unmöglich. Die modernen Grundsätze haben endgültig ihren Platz in dem öffentlichen Recht Europas gefunden und werden daraus nicht wieder verschwinden, weil sie unentbehrlich sind für die Würde wie für die Freiheit der Menschen und der Regierungen." Ob allerdings die Concilsväter diese Botschaft nicht nur vernehmen, sondern auch wirklich verstehen und beherzigen werden, dürfte mehr als ungewiss sein.
Rom, 10. Mai 1870. [Beust's Depesche.] Die österreichische Regierung hat die Depesche veröffentlicht, die Graf Beust im Februar an den Gesandten Graf Trauttmannsdorff sandte, welcher die darin geäußerten Bedenken dem Heiligen Stuhl vortrug. Graf Beust führt aus: "Treu den Prinzipien weiser Freiheit, welche die Grundlage unserer Verfassung bilden, waren wir durchaus bereit, die katholische Kirche ihre inneren Angelegenheiten in vollster Unabhängigkeit ordnen zu lassen. Symptome indes, deren Wichtigkeit nicht zu verkennen ist, flößen uns ernsthafte Besorgnisse ein. Sie beweisen in der Tat, dass in den höchsten Kreisen der Kirche eine ausgesprochene Tendenz vorherrscht, die Freiheit, die wir für den Staat in allen Fragen der Civilgesetzgebung fordern, nicht nur nicht anzuerkennen, sondern nicht einmal zu dulden. Die Öffentlichkeit lehnt sich nicht ohne Grund gegen gewisse Manifestationen auf, die, wenn sie realisiert werden sollten, eine unübersteigliche Kluft zwischen den Gesetzen der Kirche und denen, die den größten Teil der modernen Gesellschaft regieren, bilden würden. Hierzu zählen in erster Linie jene Canones, die in positiver Form die Hauptbestimmungen des unter dem Namen Syllabus bekannten Actenstückes reproduzieren. Der Inhalt einiger dieser Canones ist von solcher Tragweite, dass kein Staat der Verbreitung solcher Doctrinen gleichgültig zuschauen kann. Unser Gewissen befiehlt uns, auf die ernsten, aber unausbleiblichen Folgen hinzuweisen, welche die Annahme solcher Decrete haben müsste. Man soll uns nicht eines Tages vorwerfen können, dass wir durch unser Stillschweigen zu Entscheidungen ermutigt hätten, welche im Stande sind, die tiefste Erregung in die Beziehungen zwischen Staat und Kirche zu schleudern."
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Intermezzo: Vermischte Nachrichten
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Boston, 15. December 1869. [Pacific-Bahn.] Dem Boston Traveller zufolge, gewinnt die Ansicht immer mehr Verbreitung, dass die Pacific-Eisenbahn in dem Klima der von ihr durchschnittenen Ebenen eine große Veränderung hervorbringe. Dasselbe Resultat hat man in anderen Teilen des nordamerikanischen Westens bemerkt, woselbst in den letzten 4 Jahren anstatt der früher anhaltenden Dürre reichlicher Regen fällt. Als Grund hierfür gibt man die gleichmäßige Verteilung der elektrischen Ströme durch die Eisenbahnschienen an.
Paris, 11. Januar 1870. [Victor Noir von Prinz Napoleon erschossen.] Das Ereignis des Tages und wahrlich ein sehr trauriges ist die Tötung des Journalisten Victor Noir, eines Mitarbeiters der Marseillaise, durch den Prinzen Pierre Napoleon. Der genannte Journalist hatte sich in Begleitung des Herrn Fonvielle als Zeuge des Herrn Rochefort in Sachen eines Ehrenhandels nach Auteuil zum Prinzen begeben. Es kam zu einer lebhaften Auseinandersetzung; der Prinz ließ sich von seinem heftigen Temperamente hinreißen, ergriff eine Pistole und schoß den Schriftsteller nieder. Dieser Vorfall erregt große Erbitterung unter den Volksmassen; die Geschichte wird dem Kaiser um so größere Verlegenheit bereiten, als man schon wegen des Vorfalles des Prinzen Murat mit Comté, den ersterer durchprügeln ließ, ohne dass die Gerichte es gewagt, ihn zu bestrafen, sehr ungehalten im Publicum ist. Der Prinz ist wegen seiner Heftigkeit bekannt; schon in Rom und in Corsika war er an Auseinandersetzungen beteiligt, in deren Verlauf er einen Agenten und einen Förster erschoss.

Paris, 13. Januar 1870. [Prinz Bonaparte.] Die Marseillaise bringt heute in großen Lettern folgende Erklärung: "Mordtat, ausgeübt von dem Prinzen Pierre Napoleon Bonaparte gegen den Bürger Victor Noir. – Ich habe die Schwäche gehabt, zu glauben, ein Bonaparte könnte etwas anderes sein als ein Mörder. Ich habe mir einzubilden gewagt, ein ehrliches Duell wäre in dieser Familie möglich, wo Meuchelmord traditionell und üblich sind, und heute beweinen wir unseren armen und teuren Freund Victor Noir, hingemordet von dem Banditen Pierre Napoleon Bonaparte. Wohlan, seit achtzehn Jahren befindet sich Frankreich in den blutigen Händen dieser Wegelagerer, die, nicht zufrieden damit, die Männer der Republik auf den Straßen niederzukartätschen, sie auch in schmutzige Fallen locken, um sie zu Hause zu erwürgen. Französisches Volk, findest du immer noch nicht, dass dem genug ist? – Henry Rochefort." Das Verteidigungssystem des Prinzen, der sich selber den Behörden stellte, besteht darin, zu behaupten, man habe ihn gröblich beleidigt und angegriffen, so dass er nur sein Leben verteidigt habe, welches ernstlich bedroht gewesen sei.
Assuncion, 8. März 1870. [Ende des Krieges in Paraguay.] In Südamerika ist am 1. März ein fünfjähriger Krieg beendet worden, der in vieler Hinsicht merkwürdig war. Lopez, der Präsident der Republik Paraguay, der eigentliche Urheber dieses Krieges, hat am 1. März am Ufer des Aquidaban seinen Tod gefunden; treu seinem Charakter zog er, geschlagen und verwundet, den Tod der Ergebung vor. Nun erst kann dieser Krieg, welchen die Brasilianer schon 1869 mit der Einnahme der Hauptstadt Assuncion beendet zu haben glaubten, für definitiv abgeschlossen betrachtet werden.
Tours, 21. März 1870. [Prozeß Bonaparte.] Unter großem Andrang des Publikums ist heute der Prozeß gegen den Prinzen Bonaparte eröffnet worden. Zahlreiche Correspondenten aus allen Ländern haben sich eingefunden. Eine große Zahl von Gensdarmen und Polizeiagenten halten die Ordnung aufrecht, so dass es bisher zu keinen Ausschreitungen gekommen ist.
Tours, 27. März 1870. [Das Urteil über den Prinzen Bonaparte] wurde heut mit der größten Spannung erwartet. Nach den Plädoyers stellte der Präsident den Geschworenen folgende Fragen: Ist der Angeklagte schuldig, an der Person von Victor Noir einen Mord begangen zu haben? Lag eine Provocation vor? Kann eine legitime Selbstverteidigung angenommen werden? Um drei Uhr kamen die Geschworenen zurück. Ihr Spruch verneinte die beiden ersten Fragen, bejahte die letzte. In Folge dessen erfolgte die Freisprechung des Prinzen. Der Gerichtshof verurteilte jedoch den Prinzen zur Zahlung aller Kosten für die Familie Noir und 25.000 Francs Schadenersatz an den Vater des Victor Noir.
Paris, 28. März 1870. [Bonaparte.] Die Freisprechung des Prinzen Bonaparte bildet hier selbstverständlich das alleinige Tagesgespräch. Da das Urteil selbst gesetzlich keiner Besprechung unterworfen werden darf, beschränken sich die Zeitungen auf sehr einfache Demonstrationen. Der Rappel schreibt: "Der Prinz Pierre Bonaparte ist freigesprochen. Wenn die republikanischen Blätter es allein ankündigten, so würde man natürlich glauben, sie verleumdeten das Kaiserreich. Aber man braucht nur die Zeitungen der Regierung zu lesen, und man wird sehen, dass das Kaiserreich es eingesteht. Die Bürger haben also in Zukunft nur noch Eins zu tun: sie müssen Revolver kaufen, sich vor den Prinzen hüten und sich selbst beschützen."
Rom, 1. April 1870. [Unfehlbare Zündhölzchen.] Die Fabrikation von Schwefelhölzchen ist fast die einzige Industrie, die im Staate Sr. Heiligkeit gedeiht. Die feinste Gattung eines Fabrikats aus Viterbo trägt den Namen Flammiferi infallibili, unfehlbare Zündhölzchen; unfehlbar deshalb, weil sie beim ersten Anstriche sofort Feuer fangen sollen. Nun wollte es das Unglück, dass der Papst in seinem Zimmer eine Schachtel mit der verhängnisvollen Aufschrift erblickte. Er sei, heißt es, ganz außer sich gewesen, weil er die Sache für einen Hohn genommen habe; die Anwendung der Etikette wurde daraufhin von der römischen Polizei verboten. - Obwohl die Zündhölzer leider nicht halten, was sie versprechen, zeigt dies doch, in welch reizbarem Zustand der Papst sich gegenwärtig befindet.
Osaka, 5. April 1870. [Eisenbahn.] Die letzten Nachrichten melden, dass bereits alle Vorkehrungen getroffen sind, um die ersten Eisenbahnen hier einzuführen. Die erste Linie soll Yeddo und Osaka, die alte und die neue Hauptstadt mit einander verbinden, und dann sollen Zweigbahnen von Yeddo nach Yokuhama und von Osaka nach Tjurnga gebaut werden. Die Bahnen werden Eigentum der japanesischen Regierung sein und von einer Anzahl englischer Ingenieure gebaut werden.
Berlin, 7. April 1870. [Öffentliche Gesundheit.] Gegenstand der gestrigen 36. Sitzung des Norddeutschen Reichstages war die Frage der öffentlichen Gesundheit. Abg. Graf Münster führte aus: es handle sich darum, den Menschen reine Luft, reinen Boden, reines Wasser und unverfälschte Nahrung zu geben. Namentlich müssten die Nahrungsmittel untersucht und die Resultate veröffentlicht werden, damit die Leute beim Kaufen und Consum vorsichtig seien. Abg. v. Bunsen erklärte: "Die Zeit wird kommen, wo für dieses Thema ein förmlicher Fanatismus entstehen wird. Überall mehren sich die Zeichen des Fortschritts. Bald werden wir hoffentlich nicht mehr die Klageworte Virchow's hören müssen, der forderte: Erst Gesundheit, dann Bildung."
Bern, 3. Juni 1870. [Die Gotthardbahn.] Nachdem berechtigte Hoffnung besteht, dass die Fragen betreffs der Subsidien der Bahn in Kürze geklärt werden, dürfte das große und kostspielige Werk wohl zu Stande kommen. Die Bahn wird sich im Norden der Alpen einerseits in Luzern und andererseits in Zug den bestehenden Eisenbahnen anschließen; im Süden der Alpen wird sie sich von Bellinzona einerseits über Camerlata nach Mailand, Bologna, Brindisi usw., andererseits über Novara nach Genua, Turin usw. abzweigen. Der Gotthard-Tunnel ist in einer geraden Linie zwischen Göschenen und Airolo zu erbauen; seine nördliche Mündung liegt in Göschenen 1100 Meter über dem Meeresspiegel, seine südliche in Airolo 1130 Meter; er hat eine Länge von 14,9 Kilometern. Der Tunnel soll 2 Geleise erhalten; die Bauzeit ist auf 8½-9 Jahre berechnet. Man hat sich verständigt, das Maximum der Steigung für die Alpenbahn auf 2,5 Procent festzusetzen, und die zulässig geringste Länge der Radien für die Curven wird 3000 Meter betragen. Die Kosten des Unternehmens – mitsamt den Zufahrts-Linien ein Bahnnetz von 263 Kilometer Länge – wurden auf etwa 187 Millionen Francs veranschlagt. Von diesen sollen 102 Millionen Francs als Gesellschafts-Capital und 85 Millionen als Subsidien aufgebracht werden. Italien hat auf der Conferenz im vorigen October bereits 45 Millionen Francs zugesagt, außerdem den Bau der nötigen Anschluss-Linien. Die Schweiz erklärte sich bereit, 20 Millionen herzugeben. Baden hat die Höhe seiner Subsidien auf 3 Millionen Francs fixiert. Der Norddeutsche Bund ist durch das jüngste Reichstags-Votum in den Stand gesetzt, 10 Millionen Francs zuzusagen. Es stehen somit von den Subventionen noch 7 Millionen zu decken, und von den interessierten Staaten haben Württemberg, Belgien und Holland noch keine Zusagen gemacht. Die commercielle Bedeutung der Gotthardbahn ist für die östlichen Gebiete des Norddeutschen Bundes gering, hingegen für die westlichen beträchtlich. Der durchschlagende Gesichtspunkt im norddeutschen Reichstag war allerdings der politische. Der Tunnel des Mont Cenis ist in französischen Händen, die Brennerbahn geht durch das österreichische Tyrol. Die Gotthard-Linie, durch das eng befreundete Baden und die neutrale Schweiz führend, ist die einzige Verbindung des Norddeutschen Bundes mit Italien, die nicht des guten Willens einer der großen Mächte bedarf.
Weiter im nächsten Kapitel: Schluss der Debatte
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